Frei wie ein Vogel

26 Aug

In Ruby’s Diner ist es gut gekühlt. Unser Hotel hat das Frühstück hierher ausgelagert, so dass wir zwar den ca. 3-minütigen Weg in der Morgensonne leicht transpirierend zurücklegen müssen, dann aber zufrieden und entspannt heißen (Filter-)Kaffee, Orangensaft und Toast auf den knallroten Bänken im 50er-Jahre-Stil genießen. Eine willkommene Abwechslung zum Starbucks-Standard und so richtig schön filmreif amerikanisch. Jeden Moment könnte Marty McFly hereinspaziert kommen und Biff Tannen zu einer Verfolgungsjagd anstacheln. Doch alles bleibt ruhig.

Zum Joshua-Tree-Nationalpark ist es nicht weit, doch nachdem wir eine ganze Weile nördlich der Interstate 10 orientierungslos durch Wohnstraßen und Sackgassen gekurvt sind, haken wir diese Sehenswürdigkeit für uns ab. Anfang der Woche sind zwei Touristen in dem Park ums Leben gekommen – wir wollen das Schicksal nicht herausfordern und nehmen Kurs auf Arizona, Grand Canyon Village. Beim Tankstopp in Blythe warte ich im Auto, während Tom sich an der Zapfsäule zu schaffen macht. Doch länger als 2 Minuten halte ich es bei ausgeschalteter Klimaanlage nicht aus. Die Hitze erobert den Innenraum des Wagens und animiert auch die kleinste Schweißdrüse zu sofortigen Höchstleistungen. Ich flüchte nach draußen – an die frische Luft wäre zu viel gesagt, doch das Atmen fällt etwas leichter. Am Canyon soll es kühler werden. Das Tankstellenthermometer ist mir ein Erinnerungsfoto wert.

Die Strecke zieht sich. Insgesamt fahren wir heute weit über 400 Meilen. Wir freuen uns über jedes Grad, um das die Temperaturanzeige unseres Hyundais fällt, betrachten die sich verändernde vorbeiziehende Landschaft und küren aus unzähligen Überholvorgängen unsere Top 3 der schönsten US-Trucks in der Kategorie „Rückspiegel-Fotokunst“.

In Williams begeben wir uns auf die Zielgerade und fahren ein Stück auf der historischen Route 66. Die Sonne steht tief am blauen Himmel, die Landschaft ist grün und es ist gerade mal 30° C warm. Nur einige Meter hinter der Einfahrt zum Grand Canyon National Park begrüßen uns zwei ausgewachsene Elche am Straßenrand. Es haben schon mehrere Autos angehalten, doch die Tiere äsen seelenruhig im Gebüsch, von den neugierigen Touristen gänzlich unbeeindruckt. Einer der beiden dreht meiner Canon Eos und mir demonstrativ sein gut gebautes Hinterteil zu. Nun gut, wir müssen uns sowieso beeilen, damit wir rechtzeitig zum Sonnenuntergang am South Rim ankommen.

Wir checken in der Bright Angel Lodge ein und begeben uns ohne Umwege zum Canyon, der direkt hinter dem Hauptgebäude liegt. Was auch immer ich von diesem Naturwunder erwartet habe, es wird vom ersten Anblick um ein Vielfaches übertroffen. Ruhig und friedlich, braunrot im Licht der untergehenden Sonne, liegt die riesige Schlucht vor uns und verschlägt mir die Sprache.

Wir schauen zu, wie die Sonne hinter den Felsen verschwindet, blicken hinab in die Tiefe und versuchen, die Weite dieses unglaublichen Panoramas zu begreifen. Hätte ich in diesem Moment einen Wunsch frei, würde ich mich in einen Vogel verwandeln. Ein stärkeres Gefühl von Freiheit kann es kaum geben.

 

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