Verliebt im Tivoli

9 Sept

Samstag, der 15. August, 9.30 Uhr. Vor uns liegen zwei Wochen Urlaub. Hinter uns gefühlte 356 Wochen Arbeit, Studium, Lernen, Stress. Die Sonne scheint. Das Navi, das uns in den nächsten beiden Wochen zuverlässig den Weg weisen wird, zeigt uns die Kilometer bis Kopenhagen an. Nachdem wir es davon überzeugt haben, dass wir lieber mit der Fähre fahren möchten als über die A7 und anschließend über die Storebælt-Brücke, liegen 338 km Fahrtstrecke vor uns. Geschätzte Ankunftszeit am Ziel: 13.41 Uhr.

Die erste Herausforderung begegnet uns am Horner Kreisel an der Auffahrt zur A24. Sie ist gesperrt. Voll gesperrt und keine Umleitung ausgeschildert. Was denken sich die Menschen, die so etwas zu entscheiden haben, bloß dabei? Ich habe Glück, dass ich kein orientierungsloses Weibchen im navilosen Opel Corsa bin, sondern Beifahrerin im 320d touring einschließlich ConnectedDrive sowie einem Fahrer, der schon Jahre seines Lebens auf deutschen Autobahnen verbracht hat. Ich kann mich also entspannen. Über die Kollegen von der hamburgischen Baubehörde werde ICH mich in meinem Urlaub nicht aufregen. Die geschätzte Ankunftszeit verschiebt sich um einige Minuten nach hinten, während wir auf Umwegen zur A1 finden. Wir reihen uns ein in den Strom der Campingmobile und Wohnwagengespanne in Richtung Norden. Etwas neidisch blicke ich von Zeit zu Zeit aus dem Fenster, wenn wir einen Hymer der neuesten Generation überholen. Die Dinger sehen aus wie Raumschiffe. Ihre Fahrer sitzen darin so entspannt wie in einem Whirlpool. Und es gibt sicher reichlich Platz für den kompletten Inhalt eines Kleider- UND Schuhschranks… Kurz muss ich an die schweren Herzens zurückgelassenen fünf Paar Schuhe denken, für die es sicherlich die eine oder andere Gelegenheit zu einem kurzen, aber großen Auftritt gegeben hätte im vor uns liegenden Urlaub. Mit der richtigen Auswahl an Riemchensandalen und Ballerinas ist man einfach vor jedem Fashion-Fauxpas oder bad-shoe-day gefeit. Und wie jeder weiß, sind uns die Däninnen in Sachen Trends weit voraus. Aber wie gesagt: wir überholen das fahrende Schwimmbad, was mit unserem knackigen Gefährt gerade mal 1,5 Sekunden dauert. Und ich hätte weiß Gott keine Lust gehabt, mit einem Whirlpool in der Kopenhagener City nach einem Parkplatz zu suchen.

Um 11.11 Uhr lösen wir in Puttgarden unser Ticket für die 45-minütige Überfahrt ins dänische Rødby. Geschmeidige 75 Euro für unser Fahrzeug inklusive Insassen, die später zwischen all den noch folgenden Posten auf der Kreditkartenabrechnung kaum ins Gewicht fallen werden. Bis wir auf dem Autodeck parken dürfen, müssen wir noch einige lange Minuten an Land ausharren. Unzählige Hymer-Mobile bevölkern bereits das Deck über uns. Langsam wird mir diese Spezies unsympathisch. Dieses Gefühl verfestigt sich, als ich auf der Damentoilette ankomme und mich in die Schlange der Wartenden einreihen muss. Luft anhalten ist angesagt. Sicher nicht das Schlechteste, unterwegs stets seine eigene Toilette dabei zu haben.

Die Sitzplätze auf dem Sonnendeck sind alle belegt von gut vorbereiteten Urlaubern mit Kaffee aus Thermosflaschen und Nudelsalat in Tupperdosen. In der Cafeteria riecht es nach Frittierfett und Kantinenessen. Im Duty-free-Shop gibt es die üblichen Riesenpackungen Schokolade, Parfum und anderen suchtstillenden Genussmittel. Dass wir auf dem Weg nach Dänemark sind, erkennt das geschulte weibliche Auge an dem Ständer mit glitzerndem Pilgrim-Schmuck. Ein Paar schlichte silberne Creolen für 8 Euro sind kein schlechtes Geschäft. Ein solcher Kauf lohnt sich schon allein wegen der entzückenden Tüllbeutel mit Schleife, die es jedes Mal dazu gibt. Dieser hier passt hervorragend zu meiner Sammlung. Nach diesem Erfolgserlebnis finden wir einen einigermaßen unbevölkerten Sitzbereich am Heck des Schiffes mit Panoramablick auf die schäumenden Wellen hinter uns. Die Sonne glitzert auf dem Wasser. Das Urlaubsgefühl wächst mit der stetig steigenden Entfernung zum deutschen Festland. Hoffentlich sind wir bald da.

Dänemark. Pølser, Kronen (dass die hier aber auch echt keinen Euro haben!), Tempolimit. Die überall stolz wehende dänische Flagge weckt bei mir schöne Kindheitserinnerungen. Rot-weiß wie süße Zuckerstangen, wie Tomatenketchup auf dem Hot-dog-Brötchen. Ich denke an Holzferienhäuser auf riesengroßen Grundstücken in der Dünenlandschaft, an salzige Butter unter der besten Himbeermarmelade der Welt. An Baden in den Nordseewellen, endlose Strandspaziergänge im Wind, an unbeschreiblich schönes Licht.

Die aufziehenden Wolken können die Stimmung nicht trüben. Gegen 14 Uhr erreichen wir Kopenhagen. Der Weg ins Zentrum führt vorbei an tristen Wohnblocks und Bürogebäuden. Spätestens als wir am Tivoli vorbeifahren, bin ich jedoch vor Begeisterung kaum mehr zu halten. Schon die Außenmauern finde ich so toll, dass ich auf der Stelle eine Eintrittskarte kaufen möchte. Welcher deutsche Vergnügungspark hat je eine solche Faszination ausgeübt? Für mich jedenfalls keiner. Mich überkommt eine leise Vorstellung davon, wie sich eine Dreijährige in dieser Situation fühlen muss. Auf die Mittel und Wege dieser unberechenbaren Altersklasse, meinen Willen auf der Stelle und ohne Kompromisse durchzusetzen, verzichte ich in diesem Moment allerdings lieber. Auch wenn die Versuchung groß ist.

Direkt vor unserem Hotel ist ein Parkplatz frei. Das AXEL Hotel Guldsmeden liegt nur wenige Minuten vom Tivoli entfernt in einer ruhigen Seitenstraße und sieht mit seiner strahlend weißen Fassade sehr vielversprechend aus. Im Eingangsbereich steht ein Korb mit frischen Äpfeln – das „organic hotel“ macht seinem Titel bereits an dieser Stelle alle Ehre. Die Möbel sind aus Holz, das Ambiente die pure Entspannung. Der Innenhof ist noch nass vom Regen, der netterweise kurz vor unserer Ankunft nachgelassen hat.

Unser Zimmer liegt im 4. Stock. Wir nähern uns über schmale Flure mit gemütlich knarzenden Holzdielen. Noch zwei Mal um die Ecke gebogen und wir stehen vor der richtigen Tür. Das Kärtchen mit der Libelle darauf summt die Tür auf und es geht rein in unsere Kajüte – diesen Namen verdient der Raum allein auf Grund der Stockbetten, die sich zu unserer großen Überraschung darin befinden. Wir zirkeln unser Gepäck irgendwie hinein, klettern hinterher und fühlen uns – wohl. Das Zimmer ist winzig, aber schön, mit viel Holz und Blick in den kleinen Innenhof. Auf dem Balkon laden ein Tisch und zwei Stühle zum Platznehmen ein, das Bad (mit Tageslicht! In einem Hotelzimmer! Ist das zu fassen?) ist im Vergleich riesig, mit einer offenen Dusche und vollständig in Naturstein gestaltet. Und es gibt all die Kleinigkeiten, ohne die meiner Meinung kein Hotel auch nur einen einzigen Stern verdient hätte: Kosmetiktücher. Einen anständigen Föhn. Q-Tipps, Wattepads, Bodylotion, Duschgel, Shampoo… Organic, versteht sich. Ein großer Spiegel lehnt lässig an der Wand. Bei dieser großartigen Ausstattung muss eine Frau ihre Finger im Spiel gehabt haben.

Die Stockbetten warten mit einem weiteren Highlight auf. Jedes hat seinen eigenen schwenkbaren Flatscreen, in Höhe des Fußendes an der Wand befestigt. Und es kommt noch besser: Die Dinger empfangen deutsches Fernsehen! Kurz sind wir versucht, unseren Aufenthalt hier zu verlängern und unseren gesamten Urlaub in dieser Stadt und in diesem Hotel zu verbringen. Aber nach 10 Minuten Leichtathletik-WM im ZDF ist mir dann doch nach einer Programmänderung zumute und ich animiere den Mann an meiner Seite, sich von den unverschämt durchtrainierten Menschen in ihren bikiniartigen Outfits loszureißen und sich selbst in Bewegung zu setzen.

Der Weg in die Stadt ist nicht weit, doch wir brauchen etwas länger, um am Tivoli vorbeizukommen. Weniger wegen der Menschenmassen davor – es gibt einfach so viel zu sehen. Die uniformierten Herren mit ihren unglaublichen Mützen vor diesem wunderschönen Eingangsbereich, die mir völlig unverständliche Tafel mit den Eintrittspreisen, der Blick ins Innere dieses farbenfrohen, märchenhaften Wunderlands, das Vorbeigehende, klein wie groß, voll und ganz in seinen Bann zieht.

Wir lassen uns mit der Menschenmasse weiter treiben zum Rathausplatz, wo uns die zum Tivoli ziehende Parade begegnet. Ein Spielmannszug! Ich bin wieder 7 Jahre alt und will mit einem Blumenbogen in der Hand hinterher laufen… Die Aussicht auf den ersten dänischen Hot Dog erleichtert es mir, mich von dieser Vorstellung loszureißen und einen kleinen schäbigen Stand anzusteuern, in dem ein älterer Herr diese Delikatesse zum Kauf anbietet. Bitte ganz ikeamäßig mit Röstzwiebeln, Gürkchen und allen verfügbaren Saucen. Ein dänisches Festmahl. Jetzt kann es weiter gehen.

Unser Ziel ist Nyhavn. An der alten und neuen Vergnügungsmeile der Stadt trinken wir einen Kaffee und entscheiden uns für eine der vielen Routen, die als Bootsfahrten angeboten werden. Eine wunderbare Erfindung: Wir können die Stadt von der Wasserseite aus betrachten und dabei unsere schon ein wenig strapazierten Füße zwar nicht hochlegen (das Boot ist leider voll), aber doch etwas entspannen. Es geht los, den Kanal entlang und raus in den Hafen. Wir haben uns für die rote Linie entschieden, die uns vorbeiführt am Opernhaus in Richtung Kleine Meerjungfrau, die vom Wasser aus zwar gut zu sehen ist, uns aber leider arrogant den Rücken zudreht. Weder die Touristenscharen an Land noch wir auf dem Wasser scheinen sie zu interessieren. Egal. Die Sonne scheint, der Wind weht und unser Boot fährt weiter am Kastell und Schloss Amalienburg vorbei in den Christianshavns Kanal. Hier liegen viele schöne Hausboote, einige davon sind Restaurants und Bars. Aber auch mit einem Domizil an Land hat man es hier keinesfalls schlecht getroffen – Hamburger HafenCity trifft Amsterdam könnte das Motto dieser Wohnblocks sein. Wer versucht, den Anrheinern dieses Kanals in die Fenster zu linsen, um zu Hause ein Paar schlüpfrige Details zum Besten geben zu können, könnte dafür böse bestraft werden, wenn er sich nicht in Acht nimmt. Es lauert stets die nächste Brücke, die es zu unterqueren gilt. Einige sind so niedrig, dass man auch mit einer Körpergröße unter 1,80 m im Sitzen reflexartig den Kopf einzieht, sobald das Schiff sich unter die jahrhundertealten Gemäuer schiebt. Es ist dunkel, das graue Gestein nur eine Ellenbogenlänge entfernt. Unterhalb der Wasseroberfläche haben sich unzählige Muscheln ein Zuhause am Brückenpfeiler gesucht. Ich schaue nach oben, ob es vielleicht Fledermäuse gibt, und bin froh, dass ich hier nicht schwimmen muss, sondern Boot fahren darf.

Der Kapitän bugsiert uns souverän auch durch die schmalsten Engstellen, der Reiseführer beschreibt auf dänisch und englisch mit spanischem Akzent die vorbeiziehenden Sehenswürdigkeiten. Schloss Christiansburg, die Alte Börse – genug Geschichte für einen Urlaubstag.

Wieder an Land machen wir uns auf den Weg zurück zum Hotel. Mehr als 5 km Fußweg liegen hinter uns. Ein guter Grund, im Restaurant vis-à-vis unseres Hotels einen Blick auf die Speisekarte zu werfen. In Frk. Barners Kælder wird authentische dänische Küche geboten. Und darunter versteht man hier keine Hot-dog-Variationen. Auf der schönen Terrasse ist leider kein Tisch mehr frei, daher müssen wir mit dem Keller vorlieb nehmen. Wir bestellen Dansk Hakkebøf und Barners Steak, für die Wartezeit ein lokales Bier und ein Somersby Cider – sozusagen das dänische Beck’s Green Lemon, nur süßer, weil es gar kein Bier ist. Der Laden ist gerammelt voll, das Essen lässt auf sich warten, und so haben wir Zeit, die vor Feierlaune wankenden, zum großen Teil männlichen Gäste zu beobachten, die nacheinander irgendwo im hinteren Teil des Kellers verschwinden. Dort scheint eine geschlossene Gesellschaft zu sein, vielleicht ein Junggesellenabschied. Oder ein illegaler Pokerabend? Dänische Mafia? Bevor unsere Spekulationen noch wildere Formen annehmen, wird das Essen serviert. Obwohl die Speisekarte in englisch gehalten war, bin ich angesichts meines Hacksteaks, das für drei Big Macs reichen würde, mit einem Belag aus gebratenen Zwiebeln und Spiegelei etwas überrascht. Beilagen: Gurkensalat, Salzkartoffeln und braune Sauce. Ich schaffe knapp die Hälfte davon und finde, dass ich mich dafür wie eine weltoffene Kosmopolitin mit Lufthansa Senator-Card fühlen darf, die auf Reisen durchaus die Finessen der landestypischen Küche zu schätzen weiß, anstatt in der Filiale einer zweitklassigen Restaurantkette das gleiche Essen von der standardisierten Speisekarte zu bestellen wie zu Hause. Mein Magen allerdings hätte nach dem kleinsten weiteren Bissen protestierend die deutsche Fahne gehisst und den letzten freien Platz im nächsten Block House mit einem Handtuch reserviert. Der Besuch bei Frau Barner war schön, aber die dänische Küche wird für mich auch in Zukunft weiter aus den vertrauten Hot-dog-Variationen bestehen.

Es versteht sich von selbst, dass wir nach diesem Essen noch mindestens eine Runde um den Block drehen müssen. Die Bar des nahegelegenen Radisson Hotels wurde zwar von Arne Jacobsen designt, befindet sich aber zu unserer Enttäuschung nicht im 20. Stock, sondern in der Lobby im Erdgeschoss. Unsere Runde dreht sich also wie zufällig weiter in Richtung Tivoli, das zu so später Stunde wunderschön beleuchtet immer noch scharenweise Besucher anzieht. Das Kettenkarussel „Star Flyer“ dreht sich 80 Meter hoch über der Stadt und verspricht einen einmaligen Panoramablick auf das nächtliche Kopenhagen. 85 dkr Eintritt ohne Fahrgeschäfte. Wir können nicht widerstehen. Der Park zieht uns in seinen Bann – illuminierte Brunnen, Live-Musik auf einer Open-air-Bühne, bunt beleuchtete Karussels, Restaurants, Cafés, Geschäfte… Ohne zu wissen, was wir zuerst machen wollen, stürzen wir uns in das Getümmel. Stöbern an Souvenirständen, bummeln durch Budengassen mit japanischen Lampions, über unseren Köpfen die Achterbahn. Waren wir uns vor dem Eingang noch sicher, dass wir uns nur den Park ansehen wollen und kein Multi-ride-ticket brauchen, machen wir uns nun mit den Tarifen für die Fahrgeschäfte vertraut. Der „Star Flyer“ hat es mir angetan. Der nächtliche Höhenflug soll jedoch umgerechnet an die 12 Euro kosten. Pro Person! Wir flanieren erstmal weiter durch den Park, finden leider keinen Sitzplatz in der gemütlichen Bar am See, besuchen stattdessen den Piraten auf seinem Schiff und stehen schließlich wieder am Kassenhäuschen des „Star Flyers“. Wir fassen uns ein Herz und wollen es tun, ich sehe uns schon hoch über der Stadt kreisen und Hand in Hand Kopenhagen bei Nacht von oben betrachten – solche Erinnerungen sind doch 12 Euro wert! Doch der Kassierer lässt diesen Traum zerplatzen: das Karussell schließt um 23.50 Uhr und die Schlange der Wartenden ist jetzt schon so lang, dass keine Tickets mehr verkauft werden. Neidisch und ein bisschen traurig schaue ich nach oben zu den Gondeln, die hoch am Nachthimmel leuchten. „Ich komme wieder“, flüstere ich ihnen zu.

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